Schulgeschichte
Fusion zweier starker Marken
Geschichte der Gewerblichen Schule Nagold
Ulrich Schmelzer, Gewerbliche Schule Nagold 1999
"Auch in unser sonst so ruhiges Tal ist der Geist des freisinnigen Fortschritts gedrungen" (1)
Das Auffälligste bei der ersten Recherche der örtlichen Schulgeschichte sind drei Mängel:
Bildungsgeschichte als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist in den letzten Jahrzehnten gründlich untersucht und dargestellt worden. Man findet aber nur Beiläufiges oder gar nichts über die berufliche Bildung und ihre Schulen. Wie selbstverständlich fasst der Bildungsbegriff der Fachwissenschaft die "höhere" Bildung der Gymnasien und Universitäten und daneben die "Volksschule" in ihren Spielarten als Elementarschule. Was berufliche Schulen zur Bildung einer Generation beitragen, wird selbst in modernen Gesellschaftsgeschichten (3) noch ignoriert.
Den lokalen Archiven nach zu urteilen dürften die politischen Umbrüche der letzten 150 Jahre den Schulbetrieb nicht allzu sehr beeinträchtigt haben. Entweder gingen Revolution 1918/19, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Besatzungszeit und Gründung der Bundesrepublik fast spurlos an der Schule vorbei – oder die Archive wurden gesäubert. Für beide Hypothesen gibt es Anhaltspunkte.Lokalgeschichtliche Darstellungen und frühere Jubiläumsschriften haben diese Fehlanzeigen nicht reflektiert. Der Zusammenhang zwischen Schule und der politischen und Gesellschaftsgeschichte wurde kaum berücksichtigt. Schule scheint im leeren Raum stattzufinden, zwar gab es schwere Zeiten, eine oberste Behörde in Stuttgart und immer wieder finanzielle Probleme, aber über Auswirkungen in Bildungsplänen oder die Vereinnamung der Schule für politische und wirtschaftliche Zwecke ist wenig zu finden. (4)
Auch aus diesen Gründen legt die folgende Darstellung einen Schwerpunkt auf bisher Vernachlässigtes. Das sind nach dem oben Gesagten die Themen "Schule im Nationalsozialismus" und der Übergang von 1945 bis zur Gründung der Bundesrepublik. Es sei betont, dass auch darin keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung erhoben wird.
Die Schule nimmt am 12. Januar 1849 als freiwillige Handwerkerschule den Betrieb auf. Ihre Entstehung ist verschränkt mit der des Gewerbevereins und der Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49. Was der Redakteur des "Gesellschafters" am 10.März 1848 auf so blumige Art begrüßt ("Auch in unser Tal ist der Geist des freisinnigen Fortschritts gedrungen"), ist eben die Umbruchstimmung, die andernorts sehr schnell zur "Märzrevolution" führen sollte. Initiator der Schule ist der örtliche Gewerbeverein, der wiederum selbst erst ein Vierteljahr zuvor durch den Dekan Stockmeyer gegründet wurde. Nach Hermann Bausinger hat man darin allerdings nicht einen revolutionären Akt als vielmehr die "Installierung einer bürgerlichen Ordnungsmacht gegen drohende bürgerliche Unruhe und Unordnung"(5) zu sehen. Denn der Dekan als offizieller Repräsentant des Oberamts handelte "als Regierungsvertreter". Vereins- und Schulgründungen entsprachen einer Strategie der Monarchie, "gefährliche Eruptionen zu verhindern".(6)
Einer der Hauptzwecke des Vereins ist die Bekämpfung des Freihandels, worin die Ursache des Niedergangs des ehrbaren Handwerks gesehen wurde. Gewerbevereinsgründung und seine politische Stoßrichtung können somit als Strategie von oben betrachtet werden, möglichen sozialen Protest rechtzeitig zu kanalisieren. Der Zollverein von 1834 setzte das heimische Gewerbe der übermächtigen Konkurrenz der preußischen Rheinprovinz aus, und die württembergische Gewerbeordnung von 1828 hob die Zünftigkeit von 13 Gewerben auf. Damit fiel eine wesentliche Schranke gegen die Entstehung einer produktiveren industriellen Konkurrenz. Die volle Gewerbefreiheit führte aber in Württemberg erst das Gesetz von 1862 ein. Gewerbevereins- und Schulgründung ausgerechnet während der Revolution sind also eher im Zusammenhang der wirtschaftlichen als in dem der politischen Modernisierung und der demokratischen Bewegung zu sehen.
Im allgemeinen waren die Gewerbevereine des 19. Jahrhunderts gegen die Gewerbefreiheit eingestellt.(7) Andererseits stellte die Aufhebung des Zunftzwanges eine wesentliche Voraussetzung der Industrialisierung und damit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels dar, welcher von der Kleinhandwerkerschaft zunächst nur als Bedrohung erfahren werden konnte.
Die wirtschaftliche Misere des örtlichen Gewerbes ist schon daraus zu erschließen, dass man die Einwohnerzahl Nagolds mit der Zahl der Gewerbetreibenden und der Zahl der Personen, die zu ihnen in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen, in Beziehung setzt: laut Oberamtsbeschreibung von 1862 hat die Stadt 2429 Einwohner; die Gewerbezählung ergibt 274 Handwerks- und Handelsbetriebe (ohne Wirte und Fuhrleute) mit insgesamt 261 Gehilfen. Berücksichtigt man, dass allein 2 Steinhauer 85 und 5 Zimmerleute 20 Gehilfen beschäftigten, dann stellt sich das Zahlenverhältnis so dar: 267 Selbständige mit insgesamt 156 Lohnabhängigen. Rechnet man noch Wirte und Fuhrleute hinzu, ist im Durchschnitt jeder achte Einwohner auch Inhaber eines nichtlandwirtschaftlichen Betriebes und beschäftigt weniger als eine halbe Arbeitskraft. Die Lohnarbeit steckt noch in den Anfängen, Klein- und Kleinstbetriebe beherrschen die Szene. Haupterwerbsquelle ist weiterhin die Landwirtschaft, die Gewerbetreibenden sind überwiegend auch noch Landwirte, das Vermögen der Bürger wird in Morgen Feldbesitz gemessen.(8) Das Leben in dem "sonst so ruhigen Tal" ist durch Armut geprägt.
Um so bemerkenswerter erscheint der Beschluss, zur Ausbildung des beruflichen Nachwuchses eine Handwerkerschule zu gründen. Man bewegte sich dabei in einem Trend, der von der Berufsbildungsforschung als "Paradigmenwechsel von der traditionellen Standeserziehung hin zur modernen Berufsausbildung" bezeichnet wird. Er entspricht dem in der jüngeren Handwerkergeneration verbreiteten "Bewußtsein von der Notwendigkeit der Modernisierung der bisher auf dem Imitatio- und Repetitio-Prinzip aufbauenden Werkstattlehre zu einer zweckrational gestalteten […] betrieblichen Ausbildung mit dem Ziel, den dort vermittelten praktischen Handlungsvollzug durch eine berufsbezogene theoretische Unterweisung zu ergänzen".(9)
Den konkreten Hintergrund in Württemberg bildet eine "Denkschrift des Königlichen Studienrats [ein Teil des Kultusministeriums] an die Gewerbevereine, Gewerbsleute und Gewerbefreunde in Württemberg" aus dem Jahr 1848. Der stellte zunächst fest, dass die 1825 ins Leben gerufenen "Sonntagsgewerbeschulen" die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hätten und forderte zur Gründung gewerblicher Fortbildungsschulen in Abendunterricht auf, um der wirtschaftlichen Krise und der scharfen auswärtigen Konkurrenz dauerhafte Grundlagen entgegensetzen zu können.(10)
Am Freitag, den 12. Januar 1849 wird die Handwerkerschule eröffnet, von nebenamtlichen Lehrkräften als Abend- und Sonntagsschule geführt. Rechnen, Zeichnen und Buchführung sollten unterrichtet werden. Sie darf nicht als eine einfache Fortführung der zuvor schon bestehenden Fortbildungsschule betrachtet werden. Ziel der zuletzt genannten Art von Schulen war eher die Wiederholung des in der Volksschule gelernten Stoffes. Auch die Bezeichnung "Industrieschule" für einen Vorläufertyp wirkt heute mißverständlich: Einrichtungen dieses Typs waren Armenschulen, die eine elementare allgemeine und berufliche Bildung für verschiedene Zweige, insbesondere der Hausindustrie, vermitteln sollten. Ihr Zweck war vorwiegend ein sozialer, woraus sich auch die Trägerschaft - meist Wohltätigkeitsvereine - erklärt. "Industrie" wird ursprünglich noch wörtlich als "Fleiß", dann als "Gewerbefleiß" verstanden.
Das Neue an der Handwerkerschule ist der direkte Bezug zur betrieblichen Ausbildung und dass sie von den lokalen Meistern allmählich als Teil der Ausbildung akzeptiert wurde.(11) In dieser Auslagerung einer berufsbezogenen theoretischen Unterweisung ist der Beginn des "Dualen Systems" der Berufsausbildung zu sehen. Schon im Aufruf zur Gründung der Handwerkerschule heißt es, dass "wegen der in- und ausländischen Konkurrenz nur der wirklich kenntnisreiche Gewerbemann sein Fortkommen findet".(12)
Die Schule steht 1862 unter der Leitung des "Reallehrers" und des "Knabenschulmeisters"(13), unterrichtet wird im "Weißen Schulhaus", der Besuch ist zunächst freiwillig. Im Jahr 1905 führt zuerst die Stadt Nagold den "Schulzwang" ein, ein Jahr später macht der Staat (das Königreich Württemberg) den Besuch der Berufsschule zur Pflicht. 1908 besuchen 212 Schüler den Unterricht, davon 196 den "wissenschaftlichen Unterricht" ("Geschäftsaufsatz", "geometrisches Rechnen", "gewerbliches Rechnen" und "gewerbliche Buchführung") und 124 den "Zeichenunterricht" ("Freihandzeichnen", "geometrisches Zeichnen", "Projektionszeichen", "Fachzeichen"). Darunter sind 16 auswärtige Schüler, die nur am Zeichenunterricht teilnehmen. Fachzeichen für Bau- und Metallhandwerker wurde auch 1908 noch am Sonntagvormittag unterrichtet (7.30-9.30 Uhr und 10.30-12.30 Uhr, – ob die Pause für den Kirchgang reichte?)
Nach dem Schulbericht von 1908 wird der Unterricht jetzt als Tagesunterricht von hauptamtlichen Lehrern gehalten. "Tagesunterricht" in diesem Sinne bedeutet Vormittagsunterricht von frühestens 7.00 Uhr bis spätestens 12.00 Uhr (nur Zeichenunterricht) und Abendunterricht ab frühestens 16.30 Uhr bis spätestens 20.30 Uhr ("wissenschaftlicher Unterricht"). Nachmittags stehen die Schüler also regelmäßig den Betrieben zur Verfügung. Die Unterrichtsstunde dauert 60 Minuten. Bis zu 38 Schüler bilden eine Klasse. Die Berufsstruktur ist eine rein nichtindustrielle, gesondert aufgeführt werden 2 Verwaltungslehrlinge, 3 Bauern und 2 Tagelöhner. Den weitaus größten Anteil bilden die Schreinerlehrlinge mit 39 Schülern, gefolgt von den Schlossern mit 16. Die Schule erhebt Schulgeld. Bei der Betrachtung der Schülerzahlen ist zu berücksichtigen, dass in der näheren Umgebung noch weitere selbständige Berufsschulen in Altensteig, Ebhausen, Haiterbach und Wildberg bestehen.
1912 wird das neue Gewerbeschulhaus in der Calwer Straße eingeweiht. Das für damalige Verhältnisse sehr noble Gebäude kostet die Stadt Nagold 130000 Mark. Während des Ersten Weltkrieges dient das neue Schulhaus als Lazarett. (So sind wohl auch die verhältnismäßig vielen Gräber von Kriegsgefallenen auf dem Nagolder Friedhof erklärbar.) Der Schulbetrieb muss eingeschränkt werden. Mobilmachung und Kriegserklärung Anfang August 1914 sind den Tagebüchern noch eine Notiz wert, Vergleichbares über die Novemberrevolution und den Start der Weimarer Republik 1918/19 ist nicht aufzufinden.
Der Strukturwandel in Handwerk, Handel und Gewerbe führt in den 20er und 30er Jahren zu einigen einschneidenden Veränderungen des Schulbetriebs: Es unterrichten nur noch hauptamtliche Lehrkräfte, 1920 wird eine besondere kaufmännische Abteilung eingerichtet, und die kleineren Berufsschulen des näheren Umkreises werden nach und nach aufgelöst. Zunächst treten die umliegenden Gemeinden 1929 dem Schulverband Nagold bei, womit wohl die andauernden Streitigkeiten über die Kostenumlagen aus der Welt geschaffen wurden. Die Schulen in Ebhausen, Wildberg und Haiterbach treten 1936 dem Verband Altensteig und mit diesem 1938 dem Schulverband Nagold bei. (In Altensteig werden allerdings Abteilungen für Holz, Bau und Leder weitergeführt, der Schulbetrieb endet hier im Jahr 1960.) Die Nagolder Schule bekommt Zentralfunktion – und Nagold verliert den Oberamtssitz an Calw. Der Spezialisierung der Berufsfelder trägt die Bildung von Fachklassen Rechnung. Ab 1936 gibt es zunehmend Werkstattunterricht in neuen Schulwerkstätten. 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, beteiligt sich die Schule an einer großen "Nagolder Gewerbeausstellung", die auch zu einem Jubiläum des Gewerbevereins abgehalten wird – diesmal feiert man 75jähriges Jubiläum und legt die Gründung damit auf das Jahr 1857.
Über die Bildungsinhalte und den alltäglichen Schulbetrieb in der Weimarer Republik ist dem Archiv nicht viel zu entnehmen, erhalten sind lediglich die der Schulaufsichtsbehörde zu meldenden Statistiken, Mitteilungen über eine Schulfürsorge, ein Erlass des Ministeriums, dass den Schülern eine Broschüre über den Versailler Vertag (Titel: "Versailles", verfasst vom "Arbeiterdichter Karl Bröger") ausgehändigt werden soll, deren revisionistischer Gehalt ohne weiteres unterstellt werden kann.(14) Die Verteilung ist begleitet von einem Erlass des Kultusministers Bazille vom 22.06.1929, wonach "am 28. Juni [1929] die Schüler sämtlicher Schulen über die angebliche Schuld Deutschlands am Kriege aufgeklärt werden". Ziel dieser Aufklärung [!] ist es, den "Kampf um das Recht des deutschen Volkes […] den Schülern als heilige Pflicht darzustellen. Ihre Seelen sollen sich erfüllen mit Abscheu gegen Unrecht und Unwahrheit. Ihre Herzen sollen sich begeistern an dem Gedanken, daß aus dem schweren Schicksal, das auf Deutschland lastet, sich eine große Mission des deutschen Volkes ergibt, der Kampf um das Recht überhaupt."(15) Wenn die Schulen ihren Auftrag zur politischen Bildung in diesem Sinne zu sehen haben, erstaunt es weniger, warum nationalsozialistische Propaganda ab 1930 so erfolgreich war.
Spektakulär scheint der Disziplinarfall des Lehrers G. gewesen zu sein: Dienstversäumnisse, Beschuldigungen, Verleumdungen, Verweigerungen, Anhörungen und schließlich die Versetzung ins Thüringische. Programme von Schulabschlussfeiern sind erhalten – aber alle Überlieferung außer den offiziellen "Schulberichten" bricht schlagartig mit dem Jahr 1933 ab. Wenn man berücksichtigt, welche Rolle der Nationalsozialismus der Erziehung der Jugend beimaß und welche Verflechtungen zwischen Schule und Politik anzunehmen sind, erstaunt diese Säuberung des Archivs nicht.(16)
1936 wird die "Hitlerjugend" per Gesetz zur Staatsjugend. Gegenüber Schule und Elternhaus ist sie nun in ihrer Erziehungsfunktion sogar bevorzugt. Die Schülerkarteikarten vermerken ab jetzt die Mitgliedschaft in dieser Organisation; auffällig sind einige wenige Einträge, dass der Schüler nicht Mitglied sei oder dass er beabsichtige, in die HJ einzutreten. Welche konkreten Konflikte sich dahinter verbergen, lässt sich nur erahnen.
Die besondere Bedeutung Nagolds als braune Hochburg bereits in der Zeit vor der "Machtergreifung" ist ausführlich dargelegt im Festbuch zum 1200jährigen Jubiläum der Stadt Nagold im Jahre 1986.(17) Darin wird eine Quelle zitiert, wonach die Stadt schon 1928 im württembergischen Landtag die "zweite Residenz des Dritten Reiches genannt" wurde.(18) Die Nagolder Ergebnisse der Reichstagswahlen 1924-1933 sprechen für sich. Zudem kann der totalitäre Erfassungsanspruch des Nationalsozialismus an der Nagolder Schule nicht spurlos vorbeigegangen sein. Tatsache ist, dass Bildungsanstalten eine wesentliche Rolle bei der Zerstörung der Weimarer Demokratie gespielt haben und höher gebildete Personen früher und zahlreicher Anhänger des NS waren als andere Personengruppen. Ca. 5% der gesamten Lehrerschaft des deutschen Reiches gehörten bereits vor dem 30.Januar 1933 der NSDAP an, im Mai 1933 waren schon ungefähr 25% der Lehrer deren Mitglied. Die "Gleichschaltung" der Schulen und der Lehrerverbände war bereits wenige Monate nach der "Machtergreifung" abgeschlossen.(19)
Wie sich diese "Gleichschaltung" im Schulalltag auswirkte, lässt sich ansatzweise den Anmerkungen zu den offiziellen Schulberichten entnehmen. Der Schulbericht 1933/34, datiert vom 5.April 1934, listet bereits sehr penibel insgesamt 16 (!) neue "nationale" Gedenktage auf, die in der Schule begangen wurden, darunter allein im November 1933 "Gedenken der Opfer des Weltkriegs und der im Kampf für das 3. Reich Gefallenen" (gemeint ist v.a. der Hitlerputsch vom 9.November 1923), ein Thema "Blut und Boden", am 10. November "Luthers 450. Geburtstag", am 18. November "Tag des deutschen Volkstums (Fest der deutschen Schule)" oder am 29.September ein "Deutscher Erntedanktag". Die Teilnahme von Lehrern an NSLB-Veranstaltungen (eine berufsspezifische Unterorganisation der NSDAP) ist bereits vermerkt. Bereits diese wenigen Einträge lassen zumindest einen hohen Grad an Anpassungsbereitschaft erkennen.
Der künftige, noch "i.V." unterzeichnende Schulleiter S. berichtet für 1934/35 von einer "Nationalpolitischen Schulung" für Lehrer und vermerkt in der Rubrik "Besonderes" folgende Schulveranstaltungen im Jahr 1934:
April 1934 |
"Feier des Geburtstages des Führers" |
Mai 1934 |
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Juni 1934 |
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Juli 1934 |
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Sept. 1934 |
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Nov. 1934 | Schillergedenkfeier |
März 1935 | Teilnahme am "Reichsberufswettkampf" |
"Gedenkstunden wurden im Rahmen gemeinsamer Schulfeiern durchgeführt", außerdem gab es "im Schuljahr 4 Ausmärsche an Nachmittagen." (20)
Bemerkenswert erscheint besonders, dass den Berichterstatter, obwohl als strammer Anhänger Hitlers ausgewiesen, der Mut verließ, seinen Satz zum "Röhmputsch" zu vollenden. Am 30. Juni 1934 ließ Hitler die oberste Führung der SA ermorden, weil sie eine zweite, "wirkliche" nationalsozialistische "Revolution" forderte, was Hitlers Pläne mit der Reichswehr und der Industrie störte. Die Mordaktion (der auch der ehemalige bayerische Ministerpräsident v.Kahr und der ehemalige Reichskanzler v.Schleicher zum Opfer fielen) wurde als Abwehr eines (nicht geplanten) Putschversuches ausgegeben. Bereits am 3. Juli 1934 wurde per Gesetz allen am Mord Beteiligten Straffreiheit gewährt. Der Vorgang blieb aber ein heikles Thema, weil die SA eine Massenorganisation überwiegend kleinbürgerlicher Zusammensetzung war, so dass auch angenommen werden könnte, dass den Berichtenden das Vertrauen in die offizielle Sprachregelung verließ.
Über die "Schlußfeier der Gewerbeschule" am 29.03.1935 wird in der Lokalzeitung berichtet: "In Reih und Glied, vorwiegend Hitlerjungen, waren die Gewerbeschüler gestern nachmittag 5 Uhr vor ihrer 'Hochschule' zur feierlichen Flaggenhissung angetreten." Es folgt ein Detailbericht mit Nennung der anwesenden örtlichen Honoratioren einschließlich Bürgermeister. "Mit dem 'Fahnenschwur' und dem Horst-Wessel-Lied fand die gediegene Feier ihren Abschluß." (21)
1935 führte Hitler unter Bruch des Versailler Vertrages die Wehrpflicht wieder ein. Man würde erwarten, dass von Einberufungen zum Militär in diesem frühen (Friedens-) Stadium der Aufrüstung nur die entsprechenden jungen Jahrgänge betroffen waren. Unter "Urlaubsbewilligungen" sind aber Teilnahmen von Lehrern an "Übungen der Wehrmacht" registriert, die nur auf freiwilliger Meldung beruhen können: Gewerbelehrer S., der auch als "Leiter der Gewerbeschule i.V." am 22.5.1936 diesen Bericht unterzeichnet, wird in den Jahren 1935 bis 1938 drei Mal für die Wehrmacht vom Dienst befreit (insgesamt 11 Wochen), ein anderer Gewerbelehrer im selben Zeitraum gar fünf Mal für mehr als 17 Wochen.(22) Für diese beiden besonders NS-aktiven Lehrkräfte sind auch Beurlaubungen zu Kreis- und Reichsparteitagen vermerkt.
Auch politische Werbeaktionen und die Benutzung des Schulhauses durch Unterorganisationen der NSDAP belegen deutlich, dass das Schulleben in die Allgegenwart der NS-Propaganda eingebunden war.
Ab 1938/39 werden die Berichte auf Anweisung dünner; der letzte einigermaßen umfangreiche Statistikbericht ist der über 1942/43 vom 21.12.1942. Für 1943 und 1944 reduziert sich der Berichtsumfang auf ein [!] Blatt. Der letzte Bericht wurde am 2. Dezember 1944 angefordert und am 15. Januar 1945 abgegeben. Auch hier wird der Anschein vom Funktionieren des Systems bis zum Ende aufrecht erhalten.
Die Berichte sind insofern ein starker Beleg für die Bedeutung der Schulen für die Militarisierung der Gesellschaft und bei der Durchsetzung der NS-Ideologie, die auch über die Schule hinaus wirkte. Ob die Nagolder Gewerbeschule dabei herausragend aktiv war, müsste eine vergleichende Untersuchung ergeben.
Die Altensteiger Schule nimmt im Herbst 1945 den Unterricht wieder auf, in Nagold geschieht dies im Frühjahr 1946. Der Betrieb dürfte wohl gegen Ende des Krieges vollständig zum Erliegen gekommen sein, einerseits wegen des Einsatzes der Jugendlichen zu Kriegszwecken, andererseits durch die Ausquartierung der Schule aus ihrem angestammten Gebäude noch während des Krieges.(23) Auch die "zahlreichen Einberufungen von Gewerbe- und Handelslehrern zur Wehrmacht […] zwingen zu einer erheblichen Einschränkung des Unterrichts"(24) und bewirken bereits ab 1940 an der Nagolder Schule, dass die Berufssschüler nur noch 14-täglich unterrichtet werden.(25) Das Schulhaus steht erst wieder im Herbst 1946 zur Verfügung; es mangelt an Unterrichtsmaterial, die Schülerzahlen steigen stark, und es gibt zu wenig Lehrer. Die Zahlen von 1955: acht hauptamtliche und fünf nebenamtliche Lehrkräfte für 1051 Lehrlinge.
Über die NS-Belastung einzelner Lehrer geben teilweise erhaltene Entnazifizierungsakten Auskunft: Ein Lehrer hat diesen Vorgang wohl nicht im Schuldienst überstanden, gegen zwei weitere verfügte die französische Militärregierung "Sühnemaßnahmen": vorübergehend völlige Einbehaltung des Gehalts, später Gehaltskürzung. Beiläufig interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass der 1946 im Auftrag der französischen Militärverwaltung unterzeichnende Beamte bereits vor 1945 in der oberen Schulbehörde für Personaldinge zuständig war. Schon im September 1948 genehmigt das jetzt zuständige "Kultministerium" [!] des Landes Württemberg-Hohenzollern in Tübingen eine Stundung der Gehaltskürzung mit dem Hinweis, dass die Sühnemaßnahme "infolge der zu erwartenden Amnestie" wahrscheinlich ganz entfallen werde.(26) So können die Schule und ihre Verwaltung als typische Beispiele für den Beginn der Restauration der 50er Jahre angesehen werden.
In einem anderen Sinn aufschlussreich sind die tastenden Annäherungsversuche der Schule an die von den Besatzungsmächten und später von Länderverfassung und Grundgesetz geforderte Demokratisierung der Schule. Erziehungsmaßstäbe und –ziele, wie sie in der Jubiläumsschrift zum 100jährigen Bestehen der Schule im Jahr 1949 zum Ausdruck kommen, sprechen dafür, dass die Umorientierung eher mühsam war: "Möge die Gewerbliche und Kaufmännische Berufsschule auch in Zukunft von Seiten des Handwerks, der Industrie, der Stadtverwaltung und dem gesamten Berufsschulverband die Unterstützung erfahren, die sie ihr früher angedeihen liessen, damit der werktätigen Jugend die für den Existenzkampf nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden können, und sie zu brauchbaren Gliedern des Volkes erzogen werden kann."(27)
Weder in dieser noch in anderen früheren geschichtlichen Betrachtungen erscheint auch nur ein Ansatz eines kritischen Rückblickes auf Nationalsozialismus, Krieg und Völkermord. Diese Ära wird gewürdigt unter dem Aspekt der Effizienzsteigerung der beruflichen Bildung (Fachklassen, neue Werkstätten, Berufsschulverband etc.), also im wesentlichen positiv. Nur darauf gestützt müsste man annehmen, dass der Nationalsozialismus die Schulen ideologisch überhaupt nicht berührte. Zerstört haben diese Leistungen in dieser Sichtweise dann "die Ereignisse des Jahres 1945",(28) also Niederlage und Besatzung durch die Franzosen, nicht aber, was die Diktatur vorher anrichtete. Der Euphemismus ist durchgängig festzustellen.
Es bleibt 1949 eine Kontinuität von Erziehungszielen, die Jugend für den "Existenzkampf" und "zu brauchbaren Gliedern des Volkes" zu erziehen. Diese Brauchbarkeit ist oberste Maxime der NS-Erziehung gewesen. Man kann darin aber auch ein durchgehendes antidemokratisches Potential in Erziehungswissenschaft und Lehrerschaft seit der Weimarer Republik erkennen, die Forderung nach der gliedhaften Einordnung des Einzelnen in einen einheitlich gedachten Volksorganismus.(29) Auch der Begriff "Existenzkampf" hat zumindest eine sozialdarwinistische Konnotation.
Protokolle von Lehrerkonferenzen und Berichte von Fortbildungsveranstaltungen über das Fach Gemeinschaftskunde belegen die Unsicherheit, sind aber nur vereinzelte Zeugnisse einer Politisierung von Unterricht und Schule, die man wohl eher als störend empfand.
Als einziger Gedenk- oder Feiertag in den Schulen ist im Protokollbuch der Lehrerkonferenzen zwischen dem 29.10.1948 (erster Eintrag; die ersten fünf Blätter sind herausgetrennt) und dem 09.07.1951 vermerkt:
"22.Nov.1948 Bekanntgabe folgender Erlasse:
- TU I Nr 2648 v. 9.11.48 [!]
betr: Feiern in den Schulen aus Anlaß des Tierschutztages am 24. Nov. - 24. November jeden Jahres Tag des Tiers
S. auch Amtsblatt v. 30.3.37 T. [?] 67 Erlaß des Kultministeriums Nr 2144.[…]"
Nicht nur die Berufung auf einen Erlass von 1937 ist bemerkenswert. Fast zynisch wirkt aus heutiger Sicht vielmehr, dass der Erlass eines "Tierschutztages" [!] ausgerechnet am 9.November erging. Zehn Jahre zuvor brannten genau an diesem Tag die Synagogen, es ist der Jahrestag der sog. "Reichskristallnacht". Darauf findet sich im Protokollbuch keinerlei Hinweis.
Zwei große Einschnitte bringen die sechziger Jahre: Die kaufmännische Abteilung der Gewerblichen Schule wird 1963 unter dem Namen "Kaufmännische Berufs- und Handelsschule" selbständig, und 1969 übernehmen die Landkreise von den kommunalen Verbänden die Trägerschaft der Beruflichen Schulen. In dieser Zeit der "Bildungsreform" wird auch in Nagold eine Reihe von beruflichen Vollzeitschulen gegründet, einjährige Berufsfachschulen, 1970 die zweijährige Berufsfachschule Metall, 1973 das Technische Gymnasium und 1984 das einjährige Berufskolleg zum Erwerb der Fachhochschulreife. Mit diesem noch in der Gegenwart nicht abgeschlossenen Trend zur beruflichen Vollzeitschule stoßen die Beruflichen Schulen endgültig in eine neue Dimension, von der zu Beginn der modernen Berufsausbildung vor 150 Jahren nichts zu ahnen war. Seit den sechziger Jahren wachsende Schülerzahlen führten zum Neubau des Beruflichen Schulzentrums, das 1979 bezogen wurde und im Jubiläumsjahr erneut vergrößert werden muss. Schulträger und Bildungspolitik reflektieren damit einerseits auf Arbeitsmarktprobleme, andererseits aber auch auf den Strukturwandel des Arbeitsmarktes, der eine Vielzahl neuer Bildungsgänge hervorgebracht hat.
Und damit könnte sich der Kreis zu den Anfängen der Gewerblichen Schule vor 150 Jahren wieder schließen. Deren Gründung kann als Reflex auf den Strukturwandel zur modernen Industriegesellschaft verstanden werden, auch wenn das die vom handwerklichen Denken geprägten Akteure noch nicht so sahen. Am Ende des Industriezeitalters im Übergang zum "Informationszeitalter" oder zur "Dientsleistungsgesellschaft" gibt es möglicherweise ähnliche Probleme, Aufgaben und Herausforderungen wie zum Beginn moderner beruflicher Bildung im 19. Jahrhundert.
- Der Gesellschafter, 10.März 1848, S.1, erster Satz. Der Artikel berichtet von einer Versammlung Nagolder Bürger, die sich den liberalen Forderungen aus dem Lnd an den König anschließen wollen.
- Der Text ist eher beiläufiges Ergebnis einer AG mit Schülern (Lukas Oppenländer, Jana Pöttrich, Achim Pross). Erarbeitet anlässlich des 150-jährigen Schuljubiläums 1998/1999.
- Z.B. H.-U.Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte; Bd.3: 1849 – 1914; München: Beck 1995
- Die Vernachlässigung der jüngsten Vergangenheit hat auch arbeitsökonomische Gründe.
- Festvortrag von Hermann Bausinger zum Jubiläum des Nagolder Gewerbevereins (gegr.1848), gehalten am 24.4.98; S. 3
- ebd.
- T. Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert; S. 7
- Alle Angaben nach: Beschreibung des Oberamts Nagold, 1862; S. 107 – 109
- Kh. König: Zur Geschichte der Berufsausbildung im Deutschland des 19. Jhs.; S. 203
- Karl Roth: Die Entstehung und Entwicklung des gewerblichen und kaufmännischen Schulwesens in Württemberg; Stuttgart: Holland und Josenhans [o. J.], S. 37 – 41
- Allerdings scheint die Achtung der Schule durch die Meister anfangs noch entwicklungsbedürftig gewesen zu sein. Auf die Frage, in welchen Beziehungen "die Lehrer zu der lokalen Gewerbetätigkeit" stehen, antwortet der Schulvorstand ("Reallehrer" Bodamer) im Schulbericht von 1908: "In losen Beziehungen, da die Meister den Tagesunterricht immer noch (größtenteils) als Geschäftshindernis ansehen."
- "Der Gesellschafter", Dez.1848; hier zit. nach: Die Revolution 1848/48 in Nagold und Umgebung, S. 38
- Beschreibung des Oberamts Nagold, 1862; S. 105
- Bemerkenswert erscheint, dass laut Erlass die Broschüre den Schulen von einem "Arbeitsausschuss Deutscher Verbände", also einer politischen Vereinigung, unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde.
- Staats-Anzeiger für Württemberg vom 25. Juni 1929; der Erlass ist vom Kultusminister Bazille selbst gezeichnet
- In der Sammlung der abgelegten Personalakten fehlen die interessantesten; das erste Protokollbuch der Lehrerkonferenzen ab Oktober 1948 wurde um die ersten fünf Blätter bereinigt, das Originaletikett ist durch eine neues ersetzt worden.
- 1200 Jahre Nagold, hrsg. von der Stadt Nagold; Konstanz: Stadler 1985
- Ebd.; Stefan Ackermann: Nagold im Spiegel der Reichstagswahlen 1871 – 1933; S. 206
- Herrlitz, Hopf, Tietze: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart; Weinheim und München: Juventa 1993; S. 151
- Schularchiv, Jahresbericht 1934/35
- "Der Gesellschafter", 30.03.1935
- Schularchiv, Jahresberichte 1935/36, 1936/37, 1938/39
- Zwar meldet der Schulbericht für 1944/45 immer noch 331 Schüler in der Gewerblichen Schule (Stand: 01.12.1944), die Zahl wäre aber andererseits in Beziehung zu setzen zu 502 Schülern im Jahr 1938/39.
- Erlass vom 4. März 1940; Schularchiv
- Vollzugsbericht des Schulleiters vom 27. April 1940; Schularchiv
- Schularchiv
- Manuskript "100 Jahre Schulung des gewerblichen und kaufmännischen Nachwuchses in Nagold"; Juli 1949, S. 2
- So in: "Nagold. Bild einer Stadt", 1971, S.113: "Was in mühsamer, jahrelanger Arbeit geschaffen worden war, ging durch die Ereignisse des Jahres 1945 größtenteils verloren." Wörtlich genau so schon im Manuskript "100 Jahre Schulung des gewerblichen und kaufmännischen Nachwuchses" von 1949 und wieder in der Festschrift "130 Jahre Berufliche Schulen in Nagold" von 1979
- Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazidiktatur; Darmstadt: Primus 1997; Bd. 1, S. 20 – 23